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Essay für die Broschüre zur Ausstellung Robert Seidel – Bifurcation Chamber, 22.02.–09.04.2020 im Kunstverein Ludwigsburg
Robert Seidels experimentelle Raumkunst zwischen Natur und Psychologie
Mit seinen abstrakten, farbintensiven Computeranimationen, die er für individuelle Raumsituationen entwickelt, schlägt Robert Seidel ein neues Kapitel gegenstandsloser Kunst auf; eine Strukturen und Körper transformierende Raumkunst, die sich vor dem Hintergrund dreier historischer Strömungen abhebt, denen sich der Künstler verbunden fühlt: Absoluter Film (Oskar Fischinger, Mary Ellen Bute), Kinetische Kunst (Laszlo Moholy-Nagy, Gego), Tachismus bzw. Informel (Carlfriedrich Claus, K.O.Götz). Mit dem absoluten Film verbindet ihn die Animation von Farbe und Form und dazu korrespondierender Musik. Mit der kinetischen Kunst die Bewegung, der Raumbezug, der Wahrnehmungsaspekt, das Lichtspiel und das Skulpturale. Mit dem Tachismus die expressive Geste. Sein eigener, originärer Beitrag besteht darin, die Ansätze der Vorläufer aufzugreifen und mit den Möglichkeiten der 3D-Computeranimation das historische Repertoire zu erweitern, um eine zeitgenössische Version interventionistischer Raumkunst zu formulieren.
Als Projektionsfläche dienen Fassaden und Landschaften, aber auch eigens hergestellte Skulpturderivate, deren Oberflächen zu netzartigen Strukturen ausgelegt werden. Pinselstriche und Farbflecke stehen am Anfang eines Projekts und durchlaufen in der digitalen Bearbeitung eine Transformation zu komplexen und instabilen Formgebilden, denen der Künstler nach dem Vorbild von Naturprozessen wie Wachstum und Metamorphose ein Eigenleben verleiht. Dabei vermeidet er Geschlossenheit und Notwendigkeit, er zielt auf die Auflösung von Grenzen und Zuständen; der Zufall als nicht systematisierbare Größe wird, wo er sich zeigt, in das Verfahren integriert. Die digital generierten Strukturen verlieren nie ihren fragmentarischen und ephemeren Charakter, weder kristallisieren sie noch erreichen sie das Stadium vollständiger Entwicklung: sie verbleiben in einem Zustand permanenter Metamorphose. Das Prozesshafte ist aber erst mit der Berücksichtigung psychischer Vorgänge voll erfasst: Erlebnis, Erinnerung, Ausdruck stehen den Lebensprozessen gegenüber. Im Ergebnis lässt sich jedoch nur ein Ineinandergreifen und gegenseitiges Durchdringen von Natur und Psychologie feststellen. Dieses Verhältnis wird auf der materiellen Ebene gespiegelt; seine Filme decken sich nicht mit den Projektionsflächen, schmiegen sich nicht an die vorhandenen Formen, sondern überlagern diese, gehen darüber hinweg, verwischen ihre Gestalt und werden ihrerseits verformt. Es entsteht eine Durchmischung von Materialien und Formen, deren Instabilität eine ständige Adaption erfordert, wodurch die Wahrnehmung selbst zur eigentlichen Aufgabe für den Betrachter wird…